© Hans Jessel

Die Poesie des Unperfekten

Christel Lechners Alltagsmenschen bewegen

von Imke Wein

Sie waren im Sommer 2019 das Fotomotiv schlechthin. Die Rede ist von den „Alltagsmenschen“ von Künstlerin Christel Lechner. Die Ausstellung an den unterschiedlichsten Spots im Wenningstedter Raum war mehr als ein großer Erfolg. Man hat sie irgendwie ins Herz geschlossen, die springende Lady am Dorfteich oder den Hans Guckindieluft an der Strandtreppe.
Gut ist es da zu wissen, dass es weiter geht mit dem Kunstprojekt in Wenningstedt.
Lassen Sie sich einfach bei Ihrem nächsten Besuch überraschen.

Unzählige Fotos entstanden in der Gesellschaft der surfenden Damen auf der Promenade. Gäste und Insulaner reihten sich einfach mal ein in die charmante Polonäse vor dem kursaalÑ – obwohl man Polonäsen vielleicht im wirklichen Leben ganz und gar bescheuert findet. Denn die „Alltagsmenschen“ machen etwas mit den echten, die sich zu ihnen gesellen. Die Figuren machen locker, sie stimmen heiter. Man identifi ziert sich gerne mit den übergroßen Wesen. Im wirklichen Leben würde man sie mögen, denn sie zeigen die Poesie des Unperfekten, stehen zu ihren Schwächen, scheinen mit sich und der Welt im Reinen, offenbaren die charmante Seite von Normalo. Ob in Chemnitz, auf der Bundesgartenschau in Heilbronn, in Straßburg oder in Wenningstedt: Die „Alltagsmenschen“ stellen inzwischen in Deutschland und Teilen Europas eine Population nicht zu verachtender Größe. Oft diskutierten Passanten aus Fleisch und Blut darüber, ob die „Alltagsmenschen“ jetzt Kunst seien oder eben eher nur Objekte. Geschenkt! „Ist doch wunderbar, dass diese Frage diskutiert wird, denn durch Gespräch entsteht ja etwas Neues. Wichtig ist mir, dass die Arbeit im öffentlichen Raum, in der Natur oder auch indoor die Passanten erreicht, dass sie Menschen berührt und erheitert, dass man sich an ihr erfreut“, meint die Mutter aller „Alltagsmenschen“, Christel Lechner.

Die multikreative Dame gehört übrigens zu der erklärten Minderheit derjenigen, die die Grünen Riesen auf dem Westerländer Bahnhofsvorplatz lieben. „Ich finde die toll und super spannend. Das können Sie gerne schreiben“, sagt sie. Gerade spaziert Christel

Lechner einmal um den Dorfteich, um sich nach einer intensiven Sommersaison vom Zustand ihrer Menschen zu überzeugen. „Die Resonanz auf die Wenningstedter Ausstellung war überwältigend. So viel sei verraten: 2020 wird es auf jeden Fall weitergehen“, plaudert die 72-jährige Künstlerin.

 

 

 

 

Alltagsmenschen mit Surfbrettern auf der Promenade in Wenningstedt
© Maike Hüls-Graening

"Wichtig ist mir, dass die Objekte Menschen berühren und erheitern."

Christel Lechner, Künstlerin

 

 

Alltagsmensch steht auf Balkon in Wenningstedt auf Sylt
© Maike Hüls-Graening

Überall lieben die Menschen ihre Arbeiten. Allein für 2020 bereitet sie sechs Ausstellungen vor. In Wenningstedt waren die Reaktionen so intensiv wie sonst selten. Die Skulpturen- Gruppen wurden eingehend genossen:

„Dadurch, dass mein verstorbener Mann so eine innige Verbindung zur Insel hatte, ist Sylt für mich Zuhause geworden. Ich durfte so hautnah mitbekommen, wie auf die „Alltagsmenschen“ reagiert wurde. Das war auch für mich ein wunderschönes Erlebnis. Das verbindet mich noch mehr mit der Insel“, berichtet die Künstlerin.

Sie verweilt einen Moment bei dem riesigen Paar mit Sonnenschirm. „Ich wollte den Frauen mit allem, was sie in den Familien und an den Arbeitsplätzen leisten, ein Denkmal setzen. Darum überragt sie ihn auch ein wenig“, meint Christel Lechner zärtlich und begutachtet, begutachtet, was an den beiden über den Winter ausgebessert werden muss. „Die zwei standen auch schon in der Hauptstandt. Verrückt, wie unterschiedlich die Wirkung ist“, sinniert die Künstlerin und verrät dann Details von ihrer wahrscheinlich einzigartigen Arbeitsweise: Die in Landshut und Münster ausgebildete Töpferin, Bildhauerin und Installationskünstlerin gründete mit ihrem damaligen Mann, Peter Lechner, den „Lechnerhof“ in Witten. Das Paar erlangte durch seine Kunstkeramik ein hohes Renommee. Die Familie bekam zwei Töchter – Anna und Laura. Die Liebe zu Menschen und zur feinsinnigen Beobachtung setzte Christel Lechner erstmals vor 30 Jahren in Form von Herrn und Frau Bornemann um. Das überlebensgroße Paar – Frau Bornemann mit Jersey-Rock und Organza-Bluse aus Beton – war zunächst kein Verkaufsschlager. Es entstanden aber mehr und mehr Menschen und lustige Gruppen. Jahre später bekam Christel Lechner den Auftrag, das Warenhaus „Oberpollinger“ in München auf sechs Eta- gen mit „Alltagsmenschen“ zu bestücken.

 

Das war der Urknall – heute gibt es 120 verschiedenen Menschen-Typen, permanente und wechselnde Ausstellungen in ganz Deutschland und Teilen Europas und Kunstfreunde, die sich so sehr in die Alltagsmenschen verlieben, dass sie gleich einen oder mehrere für zuhause oder die Geschäftsräume in Auftrag geben. Hinter dem Erfolg der der „Alltagsmenschen“ auf Sylt und anderswo steckt eine enorme Logistik: In Christel Lechners Atelier arbeiten etliche Fachleute – darunter federführend auch ihre Tochter Laura. Platz muss es dort in den Werkstätten ohne Ende geben, denn die „Alltagsmenschen“ sind alles andere als stapelbar.

Im Atelier auf dem Lechnerhof entstehen die Ideen zu den Figuren und es erfolgt deren Umsetzung. Auch der Transport für die Ausstellungen wird von hier aus geplant.

Christel Lechner verhandelt mit Gemeinden, Unternehmen und Privatpersonen die wirtschaftlichen Eckpfeiler der Ausstellungen („Das habe ich durch vielerlei Erfahrung inzwischen echt gut gelernt“). Zudem wird sie ständig inspiriert zu neuen „Alltagsmenschen“ – durch ihre Beobachtungen im täglichen Leben. Als sie kürzlich auf der Insel La Palma war, verguckte sie sich in weiß bekleidete Insulaner auf einem inseltypischen Fest, bei dem die Gesichter mit Mehl bestäubt werden. „Aus dieser Impression wird bestimmt etwas Neues entstehen“, versichert Christel Lechner und man ahnt, dass sie es genauso meint, wie sie es sagt. „Mein Schaffen tröstet und gibt Halt“, sagt sie versonnen. Ihr Mann, Edgar Kirschniok, war auf Sylt sehr verwurzelt. Es machte ihn glücklich, die Ausstellungseröffnung in Wenningstedt im Mai noch mitzuerleben,

kurz bevor er verstarb. Und: Er würde begeistert sein davon, dass die Zeit der „Alltagsmenschen“ in Wenningstedt noch längst nicht vorbei ist.

Dann hält eine Joggerin an, die gesehen hat, wie intensiv Christel Lechner über die Skulpturen spricht. „Sind Sie die Künstlerin? Bei uns im Sauerland gibt es etliche Figuren von Ihnen und die sind einfach eine riesengroße Freude“, versichert sie strahlend, ein Gespräch entspinnt sich und die junge Frau zeigt auf ihrem Handy ein Foto von ihrer Tochter bei der Kommunion – wie sie sich im Festtagskleid neben eine opulente und fröhliche Dame aus Beton platziert. Eine poetisch- schöne Szene – eingefangen mit der Handykamera. Ein Moment, der Erinnerung schafft. Wenn Installationen im öffentlichen Raum so viel erreichen, darf man als Künstler getrost etwas stolz auf sich sein.

Mehr Infos zur Künstlerin gibt es auf ihrer Homepage.

Künstlerin Christel Lechner mit Alltagsmenschen in Wenningstedt
© Imke Wein
Mädchen sitzt auf Alltagsmensch am Dorfteich in Wenningstedt
© Imke Wein
Alltagsmenschen sind beliebtes Fotomotiv in Wenningstedt auf Sylt
© Karen und Jürgen Ruhoff

Dieser Artikel erschien ursprünglich in unserem Magazin

 

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